Reinhard Jirgl wird 70 : Nur noch fürs Archiv
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Reinhard Jirgl scheut sich nicht, die schäbigsten Seiten vieler Figuren auszustellen ohne ihnen dabei ihrer Würde zu berauben. Bild: Florian Manz
Zeiten politischen Umbruchs sind schlechte Zeiten für alles Expressive und Sprachschöpferische: Der Autor Reinhard Jirgl, der an diesem Montag 70 Jahre alt wird, verzichtet seit 2017 auf Veröffentlichungen und Auftritte.
Ein Dorf soll abgerissen werden, es gibt keine Bewohner mehr, die Widerstand leisten. Nur in einer Ruine liegt ein Mann in der Agonie zwischen Tod und Leben, einer, der nicht sterben kann, wie es heißt, und der mit der linken Hand Tapetenfetzen von der Wand reißt, um sie mit der rechten Hand zu bekritzeln. Was er schreibt, ist für andere unleserlich, aber die Schaulustigen aus der Umgebung, die immer wieder in das verlassene Dorf einfallen, wissen von den Fetzen: „Jeder, der sie aufklaubt, ist verloren.“
Reinhard Jirgls Roman „Hundsnächte“, erschienen 1997 bei Hanser, spielt auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost- und Westdeutschland, dessen Geschichte mit einem hier geplanten Radweg unsichtbar gemacht werden soll. Das letzte Hindernis dabei stellt der Untote dar, der seine Geschichte erzählt, ohne dabei an Rezipienten zu denken, von dem aber ein Sog auf die Umgebung ausgeht. Ein Mitglied der Abrissbrigade jedenfalls, das sich der Ruine des Schreibenden nähert, ist schon nach einem kurzen Blick hinein verwandelt. Der Roman entwickelt sich zu einem wuchernden Knäuel miteinander verbundener Geschichten vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit, wie um aufzuheben, was die Abrissbrigaden unterpflügen wollen.
Dass Texte widerständig sein, dass sie ein Eigenleben entwickeln können, ist dem Werk Jirgls eingeschrieben. Er müsse bisweilen eingreifen, um seine Romane irgendwann auch zu beenden, sagt der 1953 in Ostberlin geborene Autor. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Romane wie „Abschied von den Feinden“, „Die atlantische Mauer“ oder zuletzt „Oben das Feuer, unten der Berg“ zeichnen sich nicht nur durch eine hohe Musikalität aus, sondern auch durch Disziplin in der Suche nach dem passenden Ausdruck für die anvisierte Darstellung auf der lexikalischen ebenso wie der orthographischen Ebene.
Er lässt seinen Figuren Würde und Geheimnis
In einem Text aus dem Jahr 2002 über Arno Schmidts Roman „Die Umsiedler“ zieht Jirgl Parallelen zwischen Schmidt und dessen Zeit zur eigenen Person und Gegenwart: „Nach jedem Geschichtsumbruch“, heißt es da, „ob Krieg oder ‚Wende‘, triumphiert der Konventionalismus. Darin gilt Sprache einzig der Kommunikation; alles Expressive, Sprachschöpferische, das auf ein autonomes Ich verweist, ist abzulehnen. Kein Wunder, dass sich Arno Schmidts vollkommen neuartige Prosaformen als manieriert und pessimistisch verkannt, als elitär und pornografisch verleumdet fanden.“ Vieles davon lässt sich auf Jirgls Texte und deren Rezeption übertragen, auch das, was der Essay über Schmidt auslässt: Die große Bewunderung eines Teils des Lesepublikums gerade für die Sprache Schmidts und die seines Interpreten.
Diese Bewunderung gilt großen Romanen wie „Die Unvollendeten“ (2003), der in Trauer und Zorn die Folgen schildert, die die Vertreibung aus der Heimat für eine sudetendeutsche Familie hat, oder dem Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“ über das Zusammengehen der eigentlich ideologisch widerstreitenden Mächtigen über die Köpfe der Beherrschten hinweg. Der Autor scheut sich nicht, die schäbigsten Seiten vieler Figuren auszustellen, aber er stellt sie nicht restlos bloß, sondern lässt ihnen Würde und Geheimnis, gerade indem er die Erzählperspektive gern übergangslos durch sie hindurch und weiter wandern lässt.
Es wäre ein unverhofftes Glück
Jirgl, der bis 1964 bei seiner Großmutter in Salzwedel lebte, dicht an der Zonengrenze, wuchs danach in Ostberlin auf, studierte Elektronik und arbeitete schließlich als Techniker an der Volksbühne. In der DDR durfte er nicht publizieren, sein Debüt erschien 1990. Der Autor, der es seinen Lesern nicht leicht macht und sie dann reich belohnt, der in Gesprächen gern seine Randständigkeit innerhalb des Literaturbetriebs und den Wunsch betont, in Ruhe gelassen zu werden, wurde von Kritikern mit hohem Lob überhäuft und von Jurys mit wichtigen Preisen bedacht – bis hin zum Büchnerpreis, den er 2010 erhielt. In seiner Dankesrede sprach er von der Auszeichnung als „Hinweis darauf, dass ich das Bisherige nicht vergebens geschrieben habe“. Von diesem Vertrauen auf ein verständiges Lesepublikum war sieben Jahre später nichts mehr übrig. 2017 gab sein Verlag bekannt, Jirgl werde nicht mehr öffentlich auftreten und nicht mehr publizieren.
Dass er nicht mehr schreibt, kann man sich nicht vorstellen. 2019 meldete er sich kurz zurück: Sein Archiv und seine Manuskripte gingen nach Marbach ins Literaturarchiv. Es wäre ein unverhofftes Glück, fänden neue Texte von dort irgendwann den Weg in die Öffentlichkeit. An diesem Montag feiert Reinhard Jirgl seinen siebzigsten Geburtstag.