Frankfurter Anthologie : Wilhelm Müller: „Das Wirtshaus“
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Nicht jede Winterreise führt in ein festlich geschmücktes Heim. Gerade in der Christnacht sollten wir auch an jene denken, die von der Festtagsfreude ausgeschlossen sind.
Als Wilhelm Müller 1822/23 die Gedichte der „Winterreise“ schrieb, war das Wandern längst nicht mehr auf die Walz der Handwerksgesellen beschränkt, sondern zu einer geistig-seelischen Inbesitznahme der Landschaft geworden. Sichtbar erhalten hat sich die alte Walz bis heute bei den Zimmerleuten. Das Wandern der Gesellen hatte früh in der textlich wie musikalisch einfachen Form des Volkslieds seinen Ausdruck gefunden. Erst die Dichter der Romantik machten das Lied zum Träger anspruchsvoller Symbolik, und die Komponisten wandelten im Kunstlied die einfach wiederholenden Strophen zu reich variierten Formen.
Zum neuen romantischen Begriff des Wanderns gehörte die Vorstellung der Ziellosigkeit. Ruhe wurde ersetzt durch das Sehnen nach Ruhe. An die Stelle des Ganzen rückte das Fragment, wie im Leben, so in der Kunst. In der Unvollständigkeit, welche die halben Kreuzreime der dreihebigen Vierzeiler Müllers aufweisen, spiegelt sich in Wahrheit etwas Zerbrochenes wider, das einmal vollständig war: der in zwei Hälften auseinandergefallene Langvers, der als solcher einmal einen korrekten Reim gebildet hatte. Der Romantik galt das Unvollständige höher als das Ganze: im Gemälde die Ruine, in der Dichtung das Fragment. Als Symbol für alles Zerbrechliche und Zerbrochene, auch in der Liebe, hatte man früh das zerbrochene Ringlein gewählt.
Auf einen Totenacker hat den Wanderer sein Weg „gebracht“. Nicht der Wanderer hat den Acker, auf dem er sich einfindet, als Ziel seiner Einkehr gesucht, er ist gebracht worden. Das Ineinanderspiegeln der Bilder von Gasthaus und Friedhof zitiert alte, im Volksglauben bewahrte, Vorstellungen von Sterben und Einkehr, die Müllers Verse unlösbar ineinander verschränken. Die dreimalige Wiederholung des ü-Lauts („Die müde Wandrer laden / Ins kühle Wirtshaus ein“) täuscht eine erfrischende Kühle vor, die doch in Wahrheit eine Grabeskühle ist. Aber auch diese bleibt dem Wanderer der „Winterreise“ am Ende verwehrt. Die zweite Strophe transponiert existentiell Erfahrenes ins Zeichenhafte und benennt ausdrücklich diese Zeichenhaftigkeit („Ihr grünen Kränze / Könnt wohl die Zeichen sein“). Die beiden folgenden Strophen reißen den Wanderer aus der Täuschung über die falsch gedeuteten Zeichen heraus. Diese ‚Ent-Täuschung‘ nimmt ihm die Möglichkeit der Einkehr, die er sich, „tödlich schwer verletzt“, erhofft hatte.“
Die Sehnsucht nach Ruhe
Sie sind sich nie begegnet: der aus Dessau gebürtige Dichter des Lieder-Zyklus der „Winterreise“ und ihr Komponist. Franz Schubert vertonte die ersten zwölf Gedichte des Zyklus im Februar 1827. Als er im Oktober 1827 an der Vertonung der ihm erst später zu Gesicht gekommenen übrigen Gedichte arbeitete, war Müller gerade verstorben. Müller hat die Lieder in einer subtilen Ordnung miteinander verknüpft. Trotz einzelner Umstellungen im ganzen Zyklus steht dem „Wirtshaus“ unmittelbar voran immer das Gedicht „Der Wegweiser“, das mit einer ‚Wegweisung‘ endet, die dem Wanderer zwar ‚unverrückt‘ vor Augen steht, ihn aber mit dem Weg in den Tod nur in ein von keinem Glauben und keiner Hoffnung erhelltes Nirgendwohin weist: „Einen Weisen seh ich stehen / Unverrückt vor meinem Blick; / Eine Straße muß ich gehen, / Die noch keiner ging zurück.“
Die Gedichte der „Winterreise“ wurzeln in einem aufwühlenden Erlebnis, in das Müller 1814 in Brüssel verstrickt war. Dort war er als junger Leutnant im Kampf gegen Napoleons Truppen stationiert. Die unglückliche Liebesbegegnung mit einer ‚schönen Feindin‘, von der in den Quellen der Name Therese überkommen ist, führte nach der Entdeckung zur unehrenhaften Ausstoßung Müllers aus dem Heer. Schlimmeres, womöglich das Todesurteil vor dem Kriegsgericht, hatte – wohl auf Bitten des Vaters – ein verständiger Vorgesetzter verhindert. In klirrender Kälte trat Müller am 18. November 1814 zu Fuß seine ‚Winterreise‘ an, die ihn zurück nach Dessau führte.
Manches spricht dafür, dass der Name Therese besser Thérèse, wenn nicht gar gleich anagrammatisch Esther geschrieben werden müsste. So wäre schon hier von demselben jüdischen Mädchen die Rede gewesen, dessen Müller in dem stupenden Zyklus „Johannes und Esther“ gedenkt. Dort heißt es in dem Gedicht „Christnacht“ von der von aller Festtagsfreude Ausgeschlossenen: „Aber in dem stillen Hause / Brennt kein festlich helles Licht, / Und im schwarzen Wochenkleide / Sitzt sie da und freut sich nicht.“
Müllers letzte, erst 1829 postum veröffentlichter Novelle „Debora“ handelt noch einmal von der Liebe zu einer Jüdin, diesmal einer heimlich getauften, die mit ihrem Vater im römischen Ghetto lebt. Kaum ist der junge Arturo ihrer eines Tags von ferne ansichtig geworden, umkreisen alle seine Nachtphantasien nur den einen Gedanken: „Der Mensch liebt nur einmal, wie er nur einmal geboren wird und nur einmal stirbt, und wenn wir dort oben zu einem neuen Dasein erwachen, dann wird auch unsre erste und einzige Liebe mit uns verklärt werden zu einer himmlischen Natur.“ Der jüdische Vater ermordet die Tochter, die ihren Glauben verraten hat. Der einsam zurückgebliebene Arturo konvertiert zum Katholizismus und tritt in das Kloster Santa Maria di Palazzolo in den Albanerbergen ein.
Dem Bericht zufolge, den Adelheid Müller dem Freund Gustav Schwab für einen Nachruf überließ, war es Wilhelm Müller, dem bis ans Ende seines Lebens von verstörender Hektik Getriebenen, in der Nacht zum 30. September 1827 vergönnt, nachdem er früh zu Bett gegangen war, an einem Herzschlag friedlich zu sterben. Geradeso hatte der Dichter in seiner letzten Novelle „Debora“ den Wanderer sterben lassen: „matt zum Niedersinken, tödlich schwer verletzt“.
Wilhelm Müller: „Das Wirtshaus“
Auf einen Totenacker
Hat mich mein Weg gebracht.
Allhier will ich einkehren,
Hab ich bei mir gedacht.
Ihr grünen Totenkränze,
könnt wohl die Zeichen sein,
Die müde Wandrer laden
Ins kühle Wirtshaus ein.
Sind denn in diesem Hause
Die Kammern all’ besetzt?
Bin matt zum Niedersinken,
Bin tödlich schwer verletzt.
O unbarmherz’ge Schenke,
Doch weisest du mich ab?
Nun weiter denn, nur weiter,
Mein treuer Wanderstab!