„Urban Nature“ in Mannheim : Großstadt-Gesichter
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Die Gruppe „Rimini Protokoll“ hat in der Kunsthalle Mannheim die Illusion einer Metropole geschaffen. Dabei wird der Zuschauer selbst zum Mitspieler im Patchwork der Lebensläufe.
Was ist eine Großstadt? Vieles und für jeden etwas anderes: Heimat, Zukunft, Chance, Gefahr, Traum oder Endstation. Alles eine Frage der Perspektive, behaupten die Theaterleute Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die sich im Jahr 2000 unter dem Namen „Rimini Protokoll“ zusammengeschlossen haben. Ihre Inszenierungen, mit denen sie seither von sich reden machen, verlassen die traditionelle Guckkastenbühne, um Fragen der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart auch mit den Mitteln von Film, Performance und Konzeptkunst zu verhandeln. „Urban Nature“ lautet der doppelsinnige Titel ihres jüngsten Projekts. Dafür haben sie auf der Ausstellungsfläche im Erdgeschoss der Kunsthalle Mannheim die Illusion einer Metropole geschaffen.
Ein Altstadtquartier, eine Hipster-Bar, ein Obdachlosenheim, das Besprechungszimmer einer Investmentbank unter dem Dach eines Wolkenkratzers, eine Banlieue, eine Gefängniswerkstatt und ein bürgerliches Wohnzimmer bilden die Kulisse eines Stücks, in dem die Hauptrollen mit Repräsentanten dieser großstadttypischen Milieus besetzt sind. Ihre – nicht fiktionalen, sondern von Rimini Protokoll recherchierten – Geschichten erfahren Besucher buchstäblich am eigenen Leib. Man trifft sich auf einen Drink mit einem Start-Up-Unternehmer, der die Vorzüge ständiger Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen preist, folgt einem Straßenkind auf die Pritsche eines Asyls, handelt mit einer Anlageberaterin erst einen Millionen-Deal aus und versucht dann, sie im Tennis zu schlagen, lässt sich von einer jungen Vorstadtbewohnerin für die Gefahren sensibilisieren, die in den grauen Straßen ihres Viertels lauern und ist zu Gast bei einer alleinerziehenden Mutter, die einen Teil ihrer Wohnung zur Cannabis-Plantage umfunktioniert hat und damit ihr schmales Einkommen aufbessert.
Dass der in Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater Mannheim und dem Szenografen Dominic Huber realisierte Rundgang die museale Umgebung komplett vergessen lässt, ist neben dem naturalistischen Bühnenbild und dem Live-Spiel zahlreicher Komparsen auch der digitalen Technik zu verdanken. Über Kopfhörer und Tablet empfangene, perfekt synchronisierte Klang- und Bewegtbilder führen dazu, dass analoge und virtuelle Realität kaum mehr zu unterscheiden sind und die einzelnen Parcours-Stationen als solche nicht mehr wahrgenommen werden, sondern fließend ineinander übergehen. Dass die Protagonisten spanische Namen tragen, hat damit zu tun, dass die Inszenierung für Barcelona konzipiert wurde, wo sie vor einem Jahr Premiere hatte, und nun an die Mannheimer Verhältnisse angepasst wurde. Dass die spanische Stadt den Hintergrund der Erzählungen bildet, irritiert dabei nicht im Geringsten. Denn es geht um Themen, die das Dasein auch in jeder anderen Metropole bestimmen: Migration, Globalisierung oder soziale Ungleichheit.
Großstädtisches Leben braucht indes Regeln. Folgerichtig müssen sich auch die Besucher an feste Regeln halten. Im Laufe des gut einstündigen Stadtrundgangs werden ihnen viele kurze Anweisungen ins Ohr geflüstert. Man soll etwa eine Münze in den Brunnen werfen, Türen öffnen, mit Kreide auf eine Schiefertafel zeichnen, sich auf Bodenmarkierungen stellen oder einfache Fragen beantworten. Ob man seinen Beruf gerne ausübt zum Beispiel. Das ist derart harmlos, dass man dabei schnell den Befehlston überhört, der selbst in der wohlmeinenden Aufforderung mitklingt, mit der man am Ende entlassen wird: „Bleiben Sie, so lange Sie wollen“. „Urban Nature“ fragt danach, wer eine Großstadt auf welche Weise nutzt und wie sich eine Gesellschaft auf so engem Raum organisiert. Die verstörende Erfahrung, wie leicht Menschen sich manipulieren lassen, gilt es bei der Suche nach einer Antwort zu berücksichtigen.
Rimini Protokoll: Urban Nature. In der Kunsthalle Mannheim; bis 16. Oktober. Kein Katalog.