Putin-Theaterstück in London : Schurken über und unter sich
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Gute Patrioten? Jamael Westman und Tom Hollander in „Patriots“ Bild: Marc Brenner
Wie sich der kleine Mann in die Rolle des Großen einfand: Peter Morgan, der Kopf hinter der erfolgreichen Fernsehserie „The Crown“, hat ein Theaterstück über das System Putin geschrieben. Jetzt ist „Patriots“ in London zu sehen.
Peter Morgan, Drehbuchautor der Fernsehserie „The Crown“, hat sich seinen Ruhm mit der Dramatisierung zeithistorischer Stoffe erschrieben, denen er aus einer fiktionalen Mäuschen-Perspektive dokumentarischen Charakter verleiht. Seine Kunst liegt in der Ausschöpfung des emblematischen Potenzials von Szenen, die sich hinter den Kulissen abspielen. In seinem Bühnenstück „The Audience“ hatte sich Morgan 2011 die wöchentlich stattfindenden, niemals protokollierten Gespräche der britischen Königin mit ihrem jeweiligen Premierminister vorgestellt. Elf Jahre später beleuchtet er nun in „Patriots“ die Entstehung des „Systems Putin“ durch die Darstellung des ebenso steilen Aufstiegs wie Falls des Oligarchen Boris Beresowski, einem jener Räuberbarone, die sich am Zerfall der Sowjetunion bereicherten und dabei an politischem Einfluss gewannen.
Morgan veranschaulicht in „Patriots“, wie der Spekulant zugrunde ging, weil er das eiskalte Kalkül verkannte, mit dem sein Günstling Putin vom ehemaligen KGB-Agenten zum autokratischen Herrscher mutierte. Dabei nehmen beide für sich in Anspruch, aus Liebe zum Vaterland zu handeln. Daher der Titel des Stücks, das in der dynamischen Regie von Rupert Goold am Mittwoch zur Uraufführung am Londoner Almeida Theatre kam.
Posen im Spiegel
Während Beresowksi den Kapitalismus als Grundlage der Demokratisierung rechtfertigt, sucht Putin die Autorität des Staates durch die Entmachtung der Kleptokraten wiederherzustellen. In Ehrgeiz und Skrupellosigkeit sind sich beide Kontrahenten ebenbürtig, wobei der eine in die Macht des Geldes verliebt ist und der andere nach der Macht der Macht strebt. Was sie vor allem voneinander unterscheidet, ist das Temperament. Wie stark sich Will Keens Putin im Griff hat, verraten kaum wahrnehmbare Anzeichen seiner Anspannung: die verkrampfte Haltung, ein leises Zucken im Gesicht oder eine nervöse Halsbewegung. Genial, wie sich der kleine Mann in die Rolle eines Großen einfindet, wie er übt, selbstbewusster aufzutreten, oder à la Hitler Posen im Spiegel einstudiert. Als er anfangs bei Beresowksi antichambriert, nutzt er die Gelegenheit, allein in dessen Büro zu sein, um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, am Schreibtisch eines Oligarchen zu sitzen. Dieser Machiavellist verfolgt sein Ziel systematisch, lässt sich durch nichts aus der Fassung bringen.
Hingegen quillt bei Tom Hollanders quecksilbrigem Beresowski alles an die Oberfläche. Seine Augen tanzen auf Stelzen, und er beginnt, wild zu gestikulieren, wenn er sich in Begeisterung oder Rage redet. Auf der kreuzförmigen Laufsteg-Bühne jongliert er am Schreibtisch mit seinen Telefonen. An einem versucht er, ein großes Geschäft abzuwickeln, am anderen hat er einen Bittsteller an der Strippe. Die Tochter hängt in der Warteschleife, während Beresowski einem Politiker das Ohr abkaut. Zwischendurch nimmt er den Anruf einer Geliebten entgegen, die er mit einem teuren Collier abwimmelt.
Rote Neonstreifen suggerieren den Moskauer Nachtclub, in dem Beresowski Hof hält. Unter ihm hocken die anderen Darsteller im Parkett auf Barstühlen und warten auf ihren Auftritt. Zwischendurch verwandelt sich die Bühne in ein Fernsehstudio, in dem eine Nachrichtensprecherin die Propaganda Putins ausspeit, die Beresowski als Mitbesitzer des staatlichen Senders so lange konterkariert, bis der neue Chef im Kreml den Spieß umdreht und den Oligarchen ins Parkett verweist.
Der Glaube an die Möglichkeit des Unendlichen
Morgan hat sich ein Beispiel an Tom Stoppard genommen, erreicht aber mit seiner Mischung aus schlagfertigem Witz und Reflexion nicht die Höhen von dessen intellektuellen Komödien. Er nimmt Beresowskis frühere Karriere als Mathematiker zum Anlass, verspielte Hinweise auf die Unendlichkeitstheorie einzuflechten: Ehrgeiz, so verkündet der Oligarch sardonisch, sei der Glaube an die Möglichkeit des Unendlichen. Der Mann, der hoffte, für seine Forschungen über Verhaltenssteuerung in außergewöhnlichen Situationen den Nobelpreis zu gewinnen, scheitert an einer Kombination aus Größenwahn, Gier und mangelnder Menschenkenntnis. Er fällt nicht nur auf Keens schlangenhaften Putin herein, sondern auch auf Roman Abramowitsch. Luke Thallon spielt diesen anderen Oligarchen als einen Geschäftemacher, der sich scheu geriert und sich bei Beresowski einschleicht wie ein rangniedriger Mafia-Angehöriger beim capo dei capi, um diesen dann aufs Glatteis zu führen.
Der Einzige, der als Patriot Integrität bewahrt, ist der KGB-Beamte Alexander Litwinenko, den Beresowksi derart geschickt umgarnt, dass er aus Liebe zum Vaterland aus dem korrupten Staatsdienst ausscheidet, um dann den Oligarchen zu bewachen. Putin zahlt es Litwinenko heim, indem er ihn in London vergiften lässt.
Am Anfang bemängelt Beresowksi zu Klängen des Liedermachers Wladimir Wisotzki, dass der Westen Russland als kalt und trostlos missverstehe. Mit tiefer Wehmut führt er eine Liste von Dingen auf, die das russische Herz erwärmen. Am Ende wiederholt er diese Liste, als bräche das russische Herz in seiner Brust. Im Londoner Exil ist Beresowski nicht nur der List seiner Gegenspieler zum Opfer gefallen. Ohne Russland will er nicht mehr leben. Plötzlich wirkt der Megalomane wie der kleinste Schurke in diesem Schurkenstück.